Nahrungsergänzungsmittel differenziert betrachten!

Nahrungsergänzungsmittel richtig einsetzen. Vor - und Nachteile richtig einordnen. Wissen ist Gesundheit.
Autor: Dr. Volker Zitzmann
Lesezeit: 11 Minuten
Wie viele sicherlich täglich mitbekommen, schreiben und erzählen wir viel von den positiven Wirkungen von Mikronährstoffen. Eben weil sie so wichtig und unverzichtbar für unser Leben und unsere Gesundheit sind. Wir können nicht allein von den Makronährstoffen leben: Fett, Zucker und Eiweiß. So wichtig die auch sind, vor allem Fette und Eiweiß. Sie reichen nicht aus. Ohne die Mikronährstoffe funktioniert unser Organismus nicht. Nicht-Funktionieren heißt Krankheit.
Leider ist aber unsere Nahrung heutzutage sehr arm an Mikronährstoffen durch: Industrie-Nahrung, Fertignahrung, verarbeitete Nahrung, ausgelaugte Böden, Massentierhaltung, Massenproduktion, lange irrsinnige Transporte. Nahrungsmittel reisen teilweise zweimal um die Welt, waren in mehreren verschiedenen Fertigungsanlagen, um letztendlich auf unserem Teller zu landen. Da ist es kein Wunder, dass da nicht mehr viel Wertvolles drin ist.
Leider kann keiner, in einem westlichen Industrieland wie unserem, wirklich so naturnah leben, wie es unsere Gesundheit, unser Körper, unsere Gene eigentlich fordern.
Da kommen wir dann zu den Mikronährstoffen in Kapselform, also den sogenannten Nahrungsergänzungsmitteln (NEM). Um unserem Körper nun die Möglichkeit zu geben, an das nötigste an Mikronährstoffen überhaupt annähernd zu kommen. Da kann es durchaus hilfreich sein, diese wichtigen Mikronährstoffe für unsere Gesundheit zusätzlich in Kapselform (oder Pulver oder wie auch immer, also NEM) einzunehmen.
Nun ist es so, dass wir durch die Medien leider häufig eine Schwarz-Weiß-Sicht aufgedrückt bekommen. Leider ist das, was in den Medien geschrieben wird, statistisch gesehen immer nur ein winziger Teil vom Ganzen. Da man es aber täglich liest, kommt es einem vor, als wäre es die komplette, ganze und einzige Wahrheit. Ein Beispiel: Die Medien schreiben über seltenste negative Wirkungen von Vitaminen. Dies trifft vielleicht in 0,0000001 % der Fälle zu. Dass aber im Gegensatz 200 Millionen Menschen von Vitaminen profitieren, wird nicht erwähnt - bewiesen an der Folsäurefortifikation in den USA in den 90 Jahren, was zu einer erheblichen Reduktion der Schlaganfälle geführt hat. Was aber hängen bleibt ist meist nur die Überschrift in den Medienberichten: Vitamine würden einen Schaden anrichten. Trifft aber in Wirklichkeit nur sehr selten zu. Diese Fehleinschätzung nennt man in der Psychologie „kognitive Verzerrung“.
Kognitive Verzerrung
Beispiel: Wird in der Zeitung von einem Flugzeugabsturz berichtet, bekommen viele Menschen Flugangst. Ein Flugzeugabsturz aber ist ein einzelnes, großes und sehr dramatisches Ereignis, das viele Menschenleben gleichzeitig fordert: dafür wird es für die Medien besonders attraktiv und es wird viel darüber berichtet. Dass beim Überqueren einer Straße das Risiko zu Sterben 1 000 mal höher ist, tritt dadurch in unserer Wahrnehmung in den Hintergrund. Ebenso die Tatsache, dass die große Gesamtheit aller Flüge ohne Unfall verlaufen. Warum ist das so? Kognitive Verzerrung bewirkt, dass unser Gehirn nicht statistisch korrekt arbeitet. In der Psychologie erklärt man das z. B. durch den sogenannten Möglichkeitseffekt und den Basisratenfehler: Ereignisse werden vom Gehirn überbewertet und Grundwahrscheinlichkeiten für den Eintritt eines Ereignisses werden vernachlässigt. Hinzu kommt die Verfügbarkeitsheuristik: Menschen überbewerten Informationen, die leicht erinnert werden (wie die Überschrift aus Zeitungsartikeln).
Ein weiterer Effekt aus der Psychologie, welcher zu Fehleinschätzung von Dingen führt, ist der „Default Effekt“.
Default Effekt: Übermäßige Bevorzugung einer Option, die dann in Kraft tritt, wenn ein Akteur keine aktive Entscheidung trifft.
Dieser Effekt kann auch die Argumente von Impfgegnern erklären. Einzelne, seltene Ereignisse wie ein Impfschaden werden überbewertet (Möglichkeitseffekt). Dass eine Impfung unzählige Krankheiten verhindert, wird dabei ignoriert (Basisratenfehler). Es scheint also besser, das eigene Kind oder sich selbst nicht zu impfen (aktive Entscheidung, Default Effekt) und darauf zu vertrauen, dass das Kind oder man selbst entweder die Masern nicht bekommt oder diese ohne bleibenden Schaden übersteht, als durch eine aktive Entscheidung - das Impfen - einen Impfschaden zu riskieren. Sie merken den Logikfehler?  Gerade beim Impfen eine massive Fehleinschätzung. Impfungen verhindern Krankheiten!!!!!!
Übertragen auf die Vitamine: Man liest einen Artikel in der Zeitung über negative Wirkungen von Vitaminen und macht es sich leicht: „na dann lass ich das besser alles sein mit den Vitaminen und kümmere mich nicht mehr darum“.
Noch ein Effekt in der Psychologie, der zu Fehleinschätzung führt: der „zero risc bias“
Zero-Risc-Bias: Bei 2 Optionen bevorzugen Menschen die eine Optionen, die ein einziges Risiko komplett ausschaltet, während die andere Option viele Risken reduzieren würde, aber eben nicht komplett. Also Menschen nehmen keine Vitamine, da sie lieber das eine Risiko der Vitaminüberdosierung zu 100 % ausschalten würden als die vielen Risikoreduktionen die Vitamine zu 50 % bringen (Herz-Kreislauferkrankungen, Krebs, Energielosigkeit, etc.). Wenn man also das Risiko der Überdosierung durch die komplette Nicht-Einnahme von Vitaminen um 100 % reduziert, aber das Risiko mit Vitamin-Einnahme eine Krankheit zu erleiden um 50 % reduziert. Dabei wird aber vergessen, dass das Risiko einer Überdosis 10 Fälle pro Jahr in Deutschland ist, während 50.000 Menschen jährlich am Herzinfarkt sterben.
Schlussfolgerung: Man sollte nicht unbedingt immer dem Bauchgefühl und den Medienberichten vertrauen, sondern wissenschaftlich an die Sache herangehen!!!!
Daher erfordert Gesundheit eine differenzierte Betrachtung der Dinge. Kein Schwarz-Weiß, sondern auch Graustufen, Abwägung und spezielles, individuelles Vorgehen. Wie Manuel so schön sagt: „Gesundheit ist kein Erdbeerkuchen-Rezept“.
Jetzt könnte man anders herum die Sorge haben, dass unsere vielen Informationen über Mikronährstoffe ebenso zu einer Fehleinschätzung führen könnten (Verfügbarkeitsheuristik). Risiko: Dass der eine oder andere dann leider unbedacht einfach die 10.000-fache Menge an Mikronährstoffen zuführt und dann meint, davon dann fliegen zu können.  
Daher differenziert Vorgehen!!!!!
Jetzt fängt der eigentliche Artikel von heute erst an, aber die Einführung war und ist heute bei diesem Thema besonders wichtig. Daher bitte erst weiterlesen, wenn die Einführung verinnerlicht wurde.
Nun, heute müssen auch mal ein paar Probleme mit Vitaminen angesprochen werden, aber auch hier wieder, bitte unbedingt die Einführung des Artikels und ALLE anderen Artikel und wissenschaftlichen Erkenntnisse, über die wir schon berichtet haben, im Hinterkopf behalten.
Beta-Carotin bei Rauchern
Altbekannt die Caret-Studie und ATBC-Studie aus den 90ern: 29133 männliche Raucher wurden zufällig in Gruppen eingeteilt und verschiedene Supplemente oder Placebo verabreicht. 20 mg Beta-Carotin täglich führte bei Rauchern, die über 20 Zigaretten täglich rauchen, zu einem 1,25 fach erhöhten Lungenkrebsrisiko (RR 1,25). Bei denen die unter 20 Zigaretten täglich rauchten, war das Lungenkrebsrisiko durch Beta-Carotin sogar etwas vermindert (RR 0,97). (1)
Schlussfolgerung: NUR Männliche Raucher, die mehr als 20 Zigaretten pro Tag rauchen, sollten KEINE Mega-Dosen Beta-Carotin (20 mg) pro Tag zu sich nehmen!
Beta-Carotin gehört übrigens auch nicht zu den 47 essentiellen Nährstoffen des Menschen. Vitamin A tut´s auch.
SELECT-Studie:
In der Select Studie wurde Männern Alpha-Tocopherol zugeführt (7 - 12 Jahre lang). In dieser Studie zeigte sich ein erhöhtes Risiko für Prostata Krebs bei Gabe von 400 mg α-Tocopherol täglich. Das Risiko für Prostatakrebs war 1,17-fach erhöht (HR 1,17, p = 0,008). (2)
Andere Studien konnten passend dazu zeigen, dass das das γ- und δ-Tocopherol und die Tocotrienole diejenigen sind, die vor Krebs schützen und nicht das α-Tocopherol. (3)
Dass natürliches Vitamin E sehr vorteilhaft und lebensnotwendig ist, ist unbestritten. Dass Vitamin E in der Natur aus 8 verschiedenen Subtypten besteht und ALLE 8 wichtig sind und eben nicht nur das α-Tocopherol (was in den meisten NEM-Präparaten einfachheitshalber drin ist) haben wir in dem Artikel über
Vitamin E
schon beschrieben.
Schlussfolgerung: Vitamin E sollte man nicht in hoher Dosis in seiner unnatürlichen Form (reines α-Tocopherol), sondern wie in der Natur, in 8 Formen, vorkommenden Zusammensetzung nehmen (aber auch das gibt´s als Kapsel).
Vitamin D
Vitamin D Mangel haben 90 % der Deutschen. Daher ist grundsätzlich zu wenig vorhanden. Was aber nicht heißt, dass man es völlig unüberlegt MASSIV überdosieren darf. Auch wenn die meisten eine Unterdosierung haben und zu wenig nehmen, so gibt es auch schon Menschen, die gleich 50.000 oder 100.000 IE pro Tag!!!!!! Zu sich nehmen. Das ist auf Dauer zuviel. Und da kann es dann auch zu einer Hypercalcämie (Kalziumüberschuss im Blut mit entsprechenden negativen Folgen) kommen. Auch wenn (je nach Laborwert) eine Start-Dosis von 100.000 IE sinnvoll sein kann, auch wenn manche als Erhaltungsdosis 10.000 IE am Tag zu sich nehmen, so bitte NICHT auf DAUER 40.000 oder 50.000IE täglich. Das ist zuviel. Es gibt Berichte, dass das einige machen und keine Probleme bekommen. Andere, wenn auch seltene Einzelfälle, können aber auch Probleme und eine Überdosis bei schon 20.000 IE täglich bekommen. Beim Vitamin D gibt es leider nicht das Erdbeerkuchen-Rezept. Auch wenn wir aufgrund von Studien klar sagen können, dass der optimale gesundheitliche Nutzen von Vitamin D bei einem Blutspiegel von 80 ng/ml liegt, so kann man nicht für alle Menschen die tägliche Dosis definieren, welche genau zu diesem Blutwert führen. Daher ist hier MESSEN angesagt. Laborwert des Vitamin D messen, dann wissen wo man steht und dann die tägliche Dosis dementsprechend anpassen. Dann erneut messen. Das ist der korrekte und sichere Weg um auf die gewünschten 80 ng/ml im Blut zu kommen und nicht auf über 100 oder unter 30.
Schlussfolgerung: Vitamin D sollte man nicht kritiklos extrem überdosieren. Vitamin D ist sehr  wichtig und man muss es als Kapsel (NEM) einnehmen (wenn man nicht gerade Rettungsschwimmer am Strand in Äquator-Nähe ist, wo man täglich genug Sonnenlicht bekommt). Trotzdem kann es negative Folgen haben, wenn man es extrem überdosiert. Bitte aber diese negativen Wirkungen nicht verallgemeinern und das Vitamin D deshalb gleich pauschalisiert verteufeln!
Vitamin A
Kann theoretisch bei massiver Überdosierung auch Probleme machen. Aber auch nur theoretisch. Normale Tagesdosis ist 5000 IU. Eine Vergiftung kann man mit 1.500.000 IU erreichen. Das wären dann 300 Kapseln auf einmal. Oder man isst Eisbärenleber. (siehe Artikel
Vitamin A
).
Beides nicht alltäglich. Macht glaube ich kein klar denkender Mensch.
Schlussfolgerung: Vitamin A Überdosierung ist theoretisch möglich, praktisch sehr, sehr, sehr unwahrscheinlich und nur mutwillig möglich. (Wie schon
erwähnt
, Schwangere sicherheitshalber nicht mehr als 10.000 IU pro Tag).
Natrium
Ein zuviel an Natrium gilt als gesundheitlicher Risikofaktor. Es wird allgemein empfohlen Kochsalz (Natriumchlorid) in der Nahrung zu reduzieren. Richtig. Bitte aber nicht pauschalisieren und die Elektrolyte vergessen. Zuviel Natrium ist dann schlecht, wenn man zu wenig Kalium zu sich nimmt oder zu wenig Wasser. Zuviel Natrium ist schlecht, wenn man zu wenig trinkt. Anders herum ist zuviel Wasser mit wenig Natrium schlecht (dann einfach zu sagen weniger Wasser wäre aber ebenfalls falsch). Wasser ohne Natrium ist hypoton. Das Wasser geht dann sofort verloren. Hypotonie mag unser Körper nicht. Natrium ist das wichtigste und häufigste Elektrolyt im Wasser und im Blut. Darüber haben wir ausführlich in den Artikeln über Wasser, Elektrolyte und Salz informiert.
Schlussfolgerung: alleine zuviel (also ohne Wasser und Kalium) Natriumchlorid (Kochsalz), wie in den Medien so oft beschrieben wird, ist zu vermeiden. Aber hier wieder differenzierter betrachten: zu wenig kann lebensgefährlich sein (Hyponatriämie führt zum Hirnödem und Tod), zuviel kann den Blutdruck erhöhen. Was wir immer sagen. Es ist eine differenzierte Betrachtung nötig: das richtige Verhältnis von Wasser und Elektrolyten (Natrium, Kalium, Calcium, Magnesium). Zum Natrium weder einfach weniger oder mehr zu sagen, ist leider nicht zielführend. Hört sich verwirrend und kompliziert an, aber bitte nicht den Kopf in den Sand stecken: einfache Lösung: Heilwasser MIT ausreichend Elektrolyten trinken!
Zusammenfassung:
Wie alles im Leben gibt es immer 2 Seiten zu betrachten. Auch bei Vitaminen und Nahrungsergänzungsmitteln. Undifferenziertes Schwarz-Weiß sehen und Verallgemeinerungen sind nicht unsere Sache und nicht zielführend. Wir wollen das vermitteln und die Informationen an euch weitergeben, die die Gesundheit verbessern. Wenn also wieder mal ein Zeitungsartikel oder eine Studie mit „Ätsch: Vitamine sind doch schlecht“, erscheint, dann wissen wir, dass so ein einzelner Artikel nicht tausende wissenschaftliche Erkenntnisse vieler Forscher mit einem Mal ins Gegenteil verkehren kann. Differenziertes, intelligentes Betrachten von Dingen ist das Entscheidende! Gerade wenn es um sowas komplexes und wichtiges wie die Gesundheit geht.